Familie Lussi wird eingebürgert

Eine Geschichte mit Hindernissen

Am 11.November 1854 zieht der aus Stans stam­men­de Vik­tor Lussi mit Frau und Kin­dern nach Täger­wi­len. Zehn Jah­re spä­ter wird er als Besit­zer der Lie­gen­schaft Mei­er­hof­stras­se 6 auf­ge­führt.
Und auf­ge­führt muss sich der Mann so haben, dass man ihn in man­chen Pro­to­kol­len der Gemein­de wiederfindet.

Zum Bei­spiel 1869:
Vik­tor Lussi war als ‘Aag­schwemm­te’ (Neu­zu­ge­zo­ge­ner, noch nicht seit ewi­gen Zei­ten hier ansäs­sig) dar­an inter­es­siert, dazu zu gehö­ren und dar­um selbst­ver­ständ­lich Mit­glied der frei­wil­li­gen Feu­er­wehr. Aber ein offen­bar nicht sehr hiera­chie­be­wuss­tes. Im Novem­ber hat es im Dorf gebrannt. 
Er wur­de nach gelösch­tem Brand zur Feu­er­wa­che ein­ge­teilt, von der er sich nachts um 2 Uhr ent­ge­gen kla­rem Befehl ent­fern­te, nicht ohne vor­her den Kom­man­dan­ten mit unge­büh­ren­den und ehr­ver­let­zen­den Aus­drü­cken bedacht zu haben. Der Gemein­de­rat reagier­te umge­hend und degra­dier­te Lussi bereits am glei­chen Tag und teil­te ihn der ein­fa­chen Mann­schaft zu.

Zum Bei­spiel 1875 ff:
Am 25. Febru­ar zeigt der Stras­sen­meis­ter ihn an, weil er eine Dün­ger­gru­be direkt am Fuss­weg errich­tet hat und so den Durch­gang zu Fuss und mit Kar­ren behin­dert. Der Gemein­de­rat nimmt sich der Sache an und spricht mit Lussi. Der hört zu, nickt und tut: nichts. Am 9.September des glei­chen Jah­res kommt der Gemein­de­rat dem Bau­ern ent­ge­gen und ver­fügt, dass er den Mist bis zur gewöhn­li­chen Abfuhr im Herbst belas­sen kön­ne, dann aber die die Gru­be auf den fest­ge­leg­ten Abstand zum Fuss­weg zurück­neh­men müs­se.
Eine ver­nünf­ti­ge, gute Kom­pro­miss­lö­sung, die allen gepasst hat. Auch Lussi ist froh, wie­der etwas Zeit gewon­nen zu haben, ver­teilt im Herbst den Mist wie gewöhn­lich und: lässt die Dün­ger­gru­be Dün­ger­gru­be sein! Offen­bar hat sich der Gemein­de­rat dar­auf ver­las­sen, dass allen klar ist, wel­cher Herbst gemeint ist. Lussi hat auf jeden Fall den Herbst ins Land zie­hen las­sen, sei­ne Win­ter­ar­bei­ten erle­digt und wei­te­re Jah­re ver­ge­hen las­sen.
Ver­mut­lich hat die Dün­ger­gru­be immer wie­der für Gesprächs­stoff gesorgt. Schrift­lich hat sie erst am 11.Februar 1878 wie­der Nie­der­schlag in den Pro­to­kol­len gefun­den. Dies­mal wird Lussi ange­klagt, der Auf­for­de­rung des Gemein­de­ra­tes, den Mist­stock zu ver­set­zen, nicht Fol­ge geleis­tet zu haben. Der Ange­klag­te bestrei­tet das nicht, behaup­tet aber, dass in der Gemein­de noch vie­le Dün­ger­gru­ben und Mist­stö­cke sei­en, die eben­so dicht an Fuss­we­gen und Com­mu­ni­ka­ti­ons­stras­sen lägen. Er hal­te sei­nen Unge­hor­sam daher für nicht straf­bar. Wenn für alle die glei­chen Regeln gäl­ten, dann ver­set­ze er sei­nen Mist­stock selbst­ver­ständ­lich ger­ne und umge­hend. Der Gemein­de­rat kann die­se Argu­men­ta­ti­on nicht akzep­tie­ren, hand­le es sich bei Lussis Gru­be doch um eine neue und ver­langt wei­ter­hin die Ver­set­zung. Zudem wird Lussi mit Fr. 3.30 gebüsst. Damit ver­liert sich die Spur der Gru­be. In kei­nem Pro­to­koll taucht sie noch ein­mal auf. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass Lussi der Auf­for­de­rung nach­ge­kom­men ist.

Zum Bei­spiel 1878:
Aber noch im glei­chen Jahr, am 14.November, erhält Lussi eine wei­te­re Bus­se. Dies­mal hat sein Sohn das Vieh auf frem­den Wei­den fres­sen las­sen und dabei sind auch Reb­ste­cken umge­stos­sen wor­den. Ob Lussi die vier Fran­ken acht­zig mit oder ohne Kom­men­tar bezahlt hat, ist nicht aktenkundig.

Aber jetzt will Lussi eingebürgert werden

Im Früh­jahr 1880 erreicht den Ver­wal­tungs­rat der Bür­ger­ge­mein­de Täger­wi­len ein erge­be­nes Gesuch von Vik­tor Lussi, um Ertei­lung des Bür­ger­rechts. Dabei wünsch­te er, dass er um die Hälf­te der gesetz­li­chen Taxe auf­ge­nom­men wer­de, da er bereits 25 Jah­re in der Gemein­de woh­ne.
Man muss wis­sen, dass die Ein­bür­ge­rung damals echt Geld gekos­tet hat. Die übli­che Taxe betrug 1’000.- Fran­ken. (Der Stun­den­lohn eines Arbei­ters in der Tex­til­in­dus­trie betrug damals CHF 0.25!) Wie man im Steu­er­re­gis­ter der Gemein­de vom April 1879 erfährt, hat Lussi dann­zu­mal 7’800 Fran­ken steu­er­ba­res Ver­mö­gen aus­ge­wie­sen. Die tau­send Fran­ken hät­ten also rund 1/8 sei­nes Ver­mö­gens aus­ge­macht. Kein Wun­der, dass der bau­ern­schlaue Mann mit dem Ein­bür­ge­rungs­ge­such gewar­tet hat, bis er ledig­lich die Hälf­te der Taxe hät­te bezah­len müssen.

Sie merken’s am Kon­junk­tiv: So ein­fach ging die Sache nicht!

Vik­tor Lussis Gesuch wur­de an der Gemein­de­ver­samm­lung in gehei­mer Abstim­mung mit 39 : 74 Stim­men abge­lehnt, obwohl der Ver­wal­tungs­rat der Bür­ger­ge­mein­de den Antrag zur Annah­me emp­foh­len hat­te.
Aller­dings kann man aus dem Pro­to­koll nicht schlies­sen, mit wel­chem Feu­er und mit wie­viel Elan Lussis Antrag vom Prä­si­den­ten vor­ge­tra­gen wur­de!
Votan­ten beton­ten vor der Abstim­mung, dass Lussi vor allem dem Erfor­der­nis des unklag­ba­ren Auf­ent­halts nicht ent­spre­che und wie­sen auf alles hin, was in die­ser Rich­tung zu sagen war. Bestimmt wur­de dabei auch der berühm­te Mist­stock wie­der ein­mal erwähnt.
Viel­leicht hat sich aber auch manch einer der Nein-Stim­mer an mar­ki­ge Sprü­che des Gesuch­stel­lers erin­nert. Zum Bei­spiel soll er geprahlt haben, sobald er denn Bür­ger sei, wol­le er schon schau­en, dass in der Kir­che bald ein katho­li­scher Altar zu ste­hen kom­me! Das war damals natür­lich Öl ins Feu­er. Täger­wi­len, ein Dorf mit stramm refor­mier­ter Bevöl­ke­rung, fühl­te sich pro­vo­ziert und schmet­ter­te das Gesuch ab.

Umge­hend beschwert sich Lussi beim Regie­rungs­rat des Kan­tons Thur­gau. Die­ser will vom Ver­wal­tungs­rat der Bür­ger­ge­mein­de wis­sen, was es mit der Ange­le­gen­heit auf sich habe. Der Ver­wal­tungs­rat gibt am 2.Mai 1880 Ant­wort und zählt in sei­nem Schrei­ben alle Que­re­len und Vor­komm­nis­se rund um die Fami­lie Lussi auf, wäscht sei­ne Hän­de in Unschuld, weil er ja das Ein­bür­ge­rungs­ge­such unter­stützt hat. Die Rück­mel­dung endet mit die­sem Satz: Das Gesag­te dürf­te die Hal­tung der Mehr­heit, wenn nicht recht­fer­ti­gen, so doch erklä­ren und eini­ger­mas­sen ent­schul­di­gen.
Bereits am 18. Juni 1880 trifft der regie­rungs­rät­li­che Ent­scheid im Dorf ein: Die Beschwer­de Lussis wird gut­ge­heis­sen, der Beschluss der Gemein­de­ver­samm­lung wird auf­ge­ho­ben, ein neu­er soll gefasst wer­den. In sei­ner Begrün­dung win­det sich der Regie­rungs­rat vor allem um Lussis unklag­ba­ren Auf­ent­halt, er hält fest, dass Büs­sung ledig­lich wegen Flur­ver­ge­hen und dizi­pli­na­ri­scher Über­tre­tun­gen nicht aus­reich­ten, die lega­len Bedürf­nis­se des Beschwer­de­füh­rers zu schmä­lern.

Aber die Täger­wi­ler Bür­ger geben so schnell nicht auf. Nach dem Mot­to ‘Wir sind das Volk’ lehnt eine aus­ser­or­dent­li­che Bür­ger­ver­samm­lung das Gesuch ein zwei­tes Mal ab. Ein zwei­tes Mal gelangt Lussi umge­hend an den Regie­rungs­rat. Der reagiert schnell und teilt der Gemein­de am 3. Sep­tem­ber 1880 mit: Es sei dem Gesuch Lussis zu will­fah­ren und der Ver­wal­tungs­rat der Bür­ger­ge­mein­de Täger­wi­len zu ver­an­las­sen, von sich aus und im Namen der Gemein­de dem Begeh­ren des Peten­ten in gesetz­li­cher Wei­se gegen die hal­be Taxe zu ent­spre­chen.
Ein Faust­schlag mit­ten ins Gesicht!
Dem zwei­fa­chen Wil­len der Mehr­heit der Bür­ger ent­ge­gen und zum Ent­set­zen aller zur redu­zier­ten Taxe soll der Zwän­ge­ler Täger­wi­ler Bür­ger wer­den kön­nen! Flugs wird eine Kom­mis­si­on gebil­det, die den hohen Her­ren in Frau­en­feld im Detail und ellen­lang berich­tet, war­um die Mehr­heit der Gemein­de mit den regi­mi­nel­len Beschlüs­sen nicht ein­ver­stan­den ist. Offen­bar sieht man in Täger­wi­len aber ein, dass eine Ein­bür­ge­rung Lussis nicht zu ver­hin­dern ist. Jetzt gilt es, das Gesicht zu wah­ren, und es wird dar­auf hin­ge­ar­bei­tet, dass Lussi nicht zur hal­ben, son­dern wenigs­tens zur vol­len Taxe von Fr. 1’000.- ein­ge­bür­gert wird.
Der Regie­rungs­rat nimmt die­ses Bau­ern­op­fer an (das Opfer zahlt ja tat­säch­lich der Bau­er) und beschliesst end­gül­tig, Lussi und sei­ne Fami­lie sei zur vol­len Taxe einzubürgern.

Ende gut – alles gut!

Die Ein­bür­ge­rungs­ur­kun­de wird mit dem Datum 19. Novem­ber 1880 aus­ge­stellt,
Lussi zahlt anstands­los die Taxe,
der Regie­rungs­rat rati­fi­ziert die Ein­bür­ge­rung am 14. Janu­ar 1881.

Selbst­re­dend, dass aus Vik­tor Lussis Nach­kom­men lau­ter bra­ve, ver­ant­wor­tungs­vol­le Bür­ger und Bür­ge­rin­nen gewor­den sind.

Unter
PERSÖNLICHKEITEN  Niklaus Lussi
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28.09.2022

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