Hermann Müller-Thurgau

Her­mann Mül­ler wur­de am 21. Okto­ber 1850 im Rie­gel­haus vis-à-vis des Restau­rants Lin­de gebo­ren. Sein Vater war Kon­rad Mül­ler-Egloff, Wein­bau­er und Bäcker, und sei­ne Mut­ter Maria Egloff stamm­te vom Bau­ern­hof Nagels­hau­sen ober­halb von Täger­wi­len. Im Jah­re 1851 eröff­ne­te sein Vater eine Bäcke­rei, was ihm den Über­na­men „de Syra­che Bür­li­beck“ ein­trug. Der Über­na­me erin­ner­te an den Urgross­va­ter Syrach Mül­ler-Egloff, wel­cher das Rie­gel­haus 1805 erbau­en liess. Hier leb­te Her­mann Mül­ler bis zu sei­nem 18. Lebensjahr.

Wäh­rend sei­ner Wir­kungs­zeit in Gei­sen­heim litt Her­mann Mül­ler unter Heim­weh, wes- halb er jedes Jahr die Som­mer­fe­ri­en zusam­men mit sei­ner Fami­lie im Eltern­haus in Täger­wi­len verbrachte.

Lebens­lauf und Wirkungsstätten

1850Geburt am 21. Okto­ber 1850 in Tägerwilen
1855 – 1860Pri­mar­schu­le in Tägerwilen
1861 – 1863Sekun­dar­schu­le in Täger­wi­len, im Haus Rest. Zur Treu, und dann in Emmis­ho­fen wegen Schlies­sung der Sekundarschule
1864 – 1868Leh­rer­se­mi­nar Kreuz­lin­gen, damals unter Lei­tung von Direk­tor Johann Ulrich Rebsamen
1869 – 1870Leh­rer an der städ­ti­schen Real­schu­le in Stein am Rhein
1870 – 1872Poly­tech­ni­kum Zürich (ETH), Herbst 1872 Diplom als Fach­leh­rer für Natur­wis­sen­schaf­ten. Anschlies­send Beru­fung als Leh­rer für Natur­wis­sen­schaf­ten, Mathe­ma­tik und Tur­nen ans Leh­rer­se­mi­nar in Kreuz­lin­gen.  –  Aber Mül­ler woll­te sein bota­ni­sches Stu­di­um fort­füren, und er hat­te Glück, weil er
1872 – 1876zu Prof. Juli­us Sachs nach Würz­burg gehen konn­te. Die­ser war der füh­ren­de Pflan­zen­phy­sio­lo­ge sei­ner Zeit. 
1874Mül­ler pro­mo­vier­te mit dem Prä­di­kat “Sum­ma cum lau­de” zum Dok­tor der Natur­wis­sen­schaf­ten mit einer Arbeit über Spo­ren­vor­kei­me und Zweig­vor­kei­me der Laub­moo­se. Juli­us Sachs bot nun dem „klei­nen“ Mül­ler eine Assis­ten­ten­stel­le am Pflan­zen­phy­sio­lo­gi­schen Insti­tut der Uni­ver­si­tät Würz­burg an. Es war dies eine frucht­ba­re Zeit. 
1876 – 1890 Beru­fung nach Gei­sen­heim als Lei­ter des neu­ge­schaf­fe­nen „Insti­tu­tes für Pflan­zen­phy­sio­lo­gie“ an der Preus­si­schen „Lehr- und For­schungs­an­stalt für Wein‑, Obst- und Gar­ten­bau“. In Gei­sen­heim oder in Würz­burg gab es noch einen Pflan­zen­phy­sio­lo­gen mit Namen Her­mann Mül­ler. Um Ver­wechs­lun­gen zu ver­mei­den, wur­de des­halb der „klei­ne“ Mül­ler aus Täger­wi­len ein­fach Mül­ler-Thur­gau genannt, was ihm offen­bar gefiel.
1881Am 24. Sep­tem­ber Hei­rat mit Ber­tha Anna Bie­gen, geb. 1862, Toch­ter eines hes­si­schen Wein­händ­lers. Dem Paar wur­den drei Töch­ter geschenkt: Eli­sa, Marie Loui­se und Anna Natalie.
1890Anfra­ge aus der Schweiz an Prof. Mül­ler, eine „Schw. Ver­suchs- und Lehr­an­stalt für Obst‑, Wein- und Gar­ten­bau“ auf­zu­bau­en.
Zum Abschied von Gei­sen­heim wur­de Prof. Mül­ler-Thur­gau durch den „Deut­schen Wein­bau­ver­ein“ zum Ehren­mit­glied ernannt. Als Geschenk erhielt er einen gol­de­nen Ehren­po­kal.
Auf der „Abmel­de-Beschei­ni­gung“ vom 31. Dezem­ber 1890 aus Gei­sen­heim erschien erst­mals Mül­ler-Thur­gau als Familienname.
1891 – 1923Ers­ter Direk­tor der „Schwei­ze­ri­schen Ver­suchs­an­stalt für Obst‑,Wein- und Gar­ten­bau“, Wädens­wil.
Mül­ler-Thur­gau und Hein­rich Schel­len­berg, sein ers­ter Mit­ar­bei­ter, bezo­gen im Früh­jahr 1891 das Land­vog­tei­schloss Wädens­wil, eine Schen­kung des Kan­tons Zürich, und wei­te­re Gebäu­lich­kei­ten. Die Gebäu­lich­kei­ten waren in schlech­tem Zustand. So muss­ten sie und die Schü­ler zuerst in Pro­vi­so­ri­en hausen. 
1902 Die Eid­ge­nos­sen­schaft über­nahm die Ver­suchs­an­stalt, nicht aber die Schu­le, da der Bund damals kei­ne sol­che Schu­le füh­ren durf­te. Mül­ler-Thur­gau for­cier­te nun den Bau eines Labo­ra­to­ri­ums­ge­bäu­des. Und zudem eröff­ne­te er eine Abtei­lung für Ver­wer­tung, da die Ver­wer­tung der Pro­duk­te für den wirt­schaft­li­chen Erfolg aus­schlag­ge­bend war.
1920Aus Anlass des 70. Geburts­tags wur­de Prof. Dr. Her­mann Mül­ler-Thur­gau von der Uni­ver­si­tät Bern zum Ehren­dok­tor und von vie­len land­wirt­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen zum Ehren­mit­glied ernannt.
1923Bis zum 73. Alters­jahr lei­te­te er die Ver­suchs­an­stalt in Wädenswil.
1927Tod am 18. Janu­ar 1927, in Wädens­wil, nach kur­zer Krankheit.

Drei Haupt­leis­tun­gen bzw.  Lebenswerk

  • Grün­dung der „Schweiz. Ver­suchs­an­stalt für Obst‑, Wein- und Gar­ten­bau“ in Wädens­wil.

  • Erfor­schung der bio­lo­gi­schen Ursa­chen der Alko­hol­gä­rung von Frucht- und Trau­ben­säf­ten – als ers­ter nach Lou­is Pas­teur (1822–1895) – und damit Schaf­fung der wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­gen für gärungs­lo­se Obst- und Traubenverwertung.

  • Züch­tungs­ar­beit einer neu­en Reb­sor­te „Ries­ling x Syl­va­ner“, wel­che ins­ge­samt über 30 Jah­re dauerte.

For­schungs­tä­tig­keit

Mül­ler-Thur­gau forsch­te im Bereich der Assi­mi­la­ti­ons­vor­gän­ge in den Blät­tern und dabei vor­al­lem über den Auf­bau der Assi­mi­la­ti­ons­pro­duk­te wie Zucker, Stär­ke und Zel­lu­lo­se. So erkann­te er als ers­ter, dass bei der Kar­tof­fel bei einer Lager­tem­pe­ra­tur von 0° C und tie­fer Stär­ke in Zucker über­geht, womit sich gros­se Men­gen von Zucker in den Kar­tof­feln anhäu­fen und die­se unbrauch­bar machen, das sog. „Süss­wer­den“.

Durch sorg­fäl­ti­ge Erwär­mung der Kar­tof­feln fin­det ein leb­haf­ter Zucker­ab­bau und damit ein Ent­süs­sen statt.
Von 1875 bis 1880 erforsch­te er das Gefrie­ren und Erfrie­ren der Pflan­zen.
Punk­to Trau­ben unter­such­te er die Abhän­gig­keit der Bee­re­grös­se sowie des Zucker- und Säu­re­ge­hal­tes bei der Rei­fe und Über­rei­fe. Hin­sicht­lich Obst­bäu­me forsch­te Mül­ler-Thur­gau über die Blü­ten­knos­pen­bil­dung, die Befruch­tungs­vor­gän­ge und die Fruch­t­ent­wick­lung. Er erkann­te als ers­ter, dass die Blü­ten­knos­pen­bil­dung von der Zucker­kon­zen­tra­ti­on in den knos­pen­na­hen Gewe­ben abhängt, wor­aus er die Koh­len­hy­dra­t/­Stick­stoff-Theo­rie ent­wi­ckel­te.
Viel Zeit wid­me­te er der Erfor­schung von Krank­hei­ten und Schäd­lin­gen. Beim „fal­schen Mehl­tau“ (Pil­ze: Pero­no­spo­ra) führ­ten sei­ne For­schun­gen zum Auf­bau einer wirk­sa­men Spritz­fol­ge und zur Wahl der rich­ti­gen Spritz­da­ten. Als Ursa­che für den „Rot­bren­ner“ bei Reben fand er zusam­men mit Dr. Oster­wal­der einen Pilz (Pseu­do­pe­zi­za trachei­phi­la), wor­auf er die Bekämp­fung mit früh­zei­ti­gem Sprit­zen von Bor­deaux­brü­he emp­fahl. Zudem ent­deck­te er als Ursa­che der Kräu­sel­krank­heit der Reben eine Mil­be (Phyll­ox­op­tes vitis). Dar­um emp­fahl Mül­ler-Thur­gau das Bestrei­chen der Stö­cke vor dem Aus­trieb mit Schwefelpräparaten.

Vom Ries­ling x Syl­va­ner zum Müller-Thurgau

Seit 1877 führ­te Her­mann Mül­ler sys­te­ma­ti­sche Züch­tungs­ar­beit bei der Rebe durch.

Nach dem Fest­le­gen des Zucht­ziels 1882 wähl­te er Ries­ling (Mut­ter) und Syl­va­ner (Vater) als Eltern­sor­ten aus. Er erhoff­te sich, dass die nach­kom­men­den Pflan­zen einen hohen Anbau­wert und eine gute Qua­li­tät zei­gen wür­den. Die aus­ge­präg­te Früh­rei­fe war Zufall und Glück zugleich. Bei der Kreu­zung zwei­er Sor­ten wur­de Blü­ten­staub der Vater­sor­te mit­tels fei­ner Pin­sel auf die Nar­be der Mut­ter­sor­te gebracht. Die behan­del­ten „Geschei­ne“ (Blü­ten­stand) wur­den mit klei­nen Säcken ein­ge­schlos­sen, um zu ver­hin­dern, dass frem­der Blü­ten­staub dazu­kam. Aus den gewach­se­nen Trau­ben wur­de im Herbst Samen gewon­nen, in Sand ein­ge­bet­tet und bei unter­schied­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren auf­be­wahrt (um die Keim­hem­mung zu ver­lie­ren). Dann wur­den die Samen aus­ge­sät. Die ent­stan­de­nen Pflan­zen waren siche­re Nach­kom­men der aus­ge­wähl­ten Eltern­sor­ten. Jede die­ser Pflan­zen (Säm­ling) unter­schied sich von bei­den Eltern und den ande­ren Pflan­zen. So gewann er in Gei­sen­heim eine gros­se Zahl von Säm­lin­gen, wovon er 1891 beim Wech­sel nach Wädens­wil die 150 wert­volls­ten Zucht­pflan­zen mit­nahm. In Wädens­wil wur­de Mül­ler durch den Wein­bau­tech­ni­ker H. Schel­len­berg, Chef der Wein­bau­ab­tei­lung, tat­kräf­tig unter­stützt. Nach eini­gen Jah­ren konn­ten die ers­ten Trau­ben gewon­nen wer­den, wel­che dann mit­tels Degus­ta­ti­on eine wei­te­re Aus­le­se ermög­lich­ten. Von die­sen wur­den die wert­volls­ten Pflan­zen auf unge­schlecht­li­chem Weg durch Steck­lin­ge ver­mehrt. Nach wei­te­ren Jah­ren konn­te ein gewis­ses Quan­tum Trau­ben der ver­schie­de­nen Zucht­num­mern gewon­nen wer­den. Obwohl das Kel­tern klei­ner Men­gen Trau­ben schwie­rig war, gelang es dann, ver­schie­de­ne Sor­ten mit­ein­an­der zu ver­glei­chen, um beson­de­re Eigen­schaf­ten zu erken­nen. Nach über 20 Jah­ren Arbeit ver­blie­ben dann noch zwei Zucht­num­mern, wel­che sich beson­de­rer Auf­merk­sam­keit erfreu­ten, wovon Nr. 59 (spä­ter Nr. 1) dann wei­ter ver­mehrt wur­de. Davon konn­ten 1906 erst­mals 100 Liter Wein gewon­nen wer­den. Durch die Annah­me des „Kunst­wein­ge­set­zes“ 1912 wur­de das „Gal­li­sie­ren“ (Zusatz von Zucker­was­ser zum Wein) ver­bo­ten, was den Anbau neu­er Wein­sor­ten för­der­te. An der Lan­des­aus­stel­lung 1914 in Bern stan­den ver­schie­de­ne Jahr­gän­ge der neu­en Sor­te zur Prä­mie­rung bereit.

Gemäss Wiki­pe­dia-Arti­kel zur „Müller-Thurgau“-Weissweinsorte ver­lief die „Klä­rung der Kreu­zungs­part­ner“ wie folgt: Schon Mül­ler-Thur­gau selbst heg­te Zwei­fel dar­über, wel­che Eltern-Reb­sor­ten er ver­wen­det hat­te. Dann konn­te Heinz-Mar­tin Eichels­ba­cher (1924–2003) bei sei­ner Pro­mo­ti­on 1957 an der „Baye­ri­schen Lan­des­an­stalt für Wein­bau und Gar­ten­bau“ in Veits­höch­heim, Fran­ken, nach­wei­sen, dass Sil­va­ner-Erb­gut fehlt. Die­ses Resul­tat wur­de 1998 an der „Klos­ter­neu­bur­ger Wein­bau­schu­le“ mit Hil­fe gen­tech­ni­scher Ver­fah­ren bestä­tigt und liess auf Chas­se­las als Vater-Kan­di­dat schlies­sen. An der Deut­schen Bun­des­an­stalt für Züch­tungs­for­schung in Sie­bel­din­gen, Pfalz, konn­te 1999 mit neu­en gen­dia­gnos­ti­schen Metho­den nach­ge­wie­sen wer­den, dass die Reb­sor­te Made­lei­ne Roya­le die Vater-Pflan­ze ist. Die­se wie­der­um ist kei­ne Züch­tung aus dem For­men­kreis des Chas­se­las (Gut­edel), son­dern gilt seit einer Unter­su­chung 2009 als eine Kreu­zung des Pinots mit dem Trollinger.

Kampf um die Ver­bes­se­rung der Weinqualität

Seit 1600 gibt es Mikro­sko­pe. Die Hefe­pil­ze wur­den um 1680 ent­deckt. Danach dau­er­te es aber noch 150 Jah­re bis der Zusam­men­hang zwi­schen Hefe­pil­zen und alko­ho­li­scher Gärung auf­ge­klärt war. Als Ursa­che der Gärung konn­te der fran­zö­si­sche Phy­si­ker Cagniard de la Tour (1777–1859) die Hefe­pil­ze 1837 nach­wei­sen. Und Lou­is Pas­teur (1822–1895) konn­te zudem zei­gen, dass bei der alko­ho­li­schen Gärung nicht nur Etha­nol und Koh­len­di­oxid ent­ste­hen, son­dern auch diver­se Neben­pro­duk­te. Auf die­sen Erkennt­nis­sen bau­te Mül­ler-Thur­gau bei sei­nen For­schun­gen über den Gärungs­vor­gang auf. So konn­te er 1882 am Deut­schen Wein­bau­kon­gress den gros­sen Ein­fluss der Tem­pe­ra­tur auf die Gärung nach­wei­sen. Als opti­ma­le Tem­pe­ra­tur zur Erhal­tung einer guten Wein­qua­li­tät emp­fahl er 20 – 24 ° C. Dane­ben forsch­te er auch über Fehl­gä­run­gen bzw. deren ver­ur­sa­chen­de Mikro­or­ga­nis­men. Am Dt. Wein­bau­kon­gress von 1890 in Worms sprach Mül­ler über den Säu­re­ge­halt des Weins wäh­rend der Lage­rung und nann­te säu­re­zer­set­zen­de Bak­te­ri­en als Ursa­che. Der däni­sche Bota­ni­ker Emil Chr. Han­sen (1842–1909) konn­te nach­wei­sen, dass die Ver­gä­rung des Biers nicht allein von einer Hefer­as­se, son­dern von einer grös­se­ren Anzahl bewirkt wur­de. Und der deut­sche Medi­zi­ner Robert Koch (1843–1910), wel­cher 1882 den Tuber­ku­lo­se-Erre­ger ent­deck­te, hat­te auch die Nähr­ge­la­ti­ne-Plat­ten ent­wi­ckelt für die Gewin­nung von Mikro­or­ga­nis­men-Rein­kul­tu­ren. Mül­ler-Thur­gau sei­ner­seits wies nach, dass die Gärung im Wein­most auf ver­schie­de­nen Hefer­as­sen beruh­te, und er war erfolg­reich bei der Selek­ti­on von Hefen, wel­che auch noch bei tie­fen Tem­pe­ra­tu­ren akti­ons­fä­hig waren, z.B. bei küh­lem Herbst­wet­ter oder bei küh­len Kel­ler­tem­pe­ra­tu­ren. Dank der erfolg­rei­chen Zucht von Hefer­as­sen, wel­che gegen schwef­li­ge Säu­re wider­stands­fä­hig waren, konn­ten Fehl­gä­run­gen ein­ge­dämmt und mit Rein­he­fe sicher ver­gärt wer­den. Durch die Bei­ga­be einer gewis­sen Men­ge von Rein­he­fe zum Most wur­de eine rei­ne­re Ver­gä­rung gesi­chert und eine Stei­ge­rung der Wein­qua­li­tät erreicht. – Neben der For­schungs­tä­tig­keit muss­ten Prof. Mül­ler, Dr. Oster­wal­der und ihre Mit­ar­bei­ter vie­le Ein­sen­dun­gen von ver­dor­be­nen oder ver­go­re­nen Obst­säf­ten unter­su­chen und Emp­feh­lun­gen an die Pra­xis abge­ben. Die For­schungs­tä­tig­keit und die Bera­tung der Pra­xis führ­ten zu einer deut­li­chen Hebung der Qua­li­tät von Wein- und Obstsäften.

Grund­la­gen für die Her­stel­lung alko­hol­frei­er Getränke

Als Vor­aus­set­zung für die Erfor­schung der Vor­gän­ge bei der alko­ho­li­schen Gärung brauch­te Mül­ler-Thur­gau fri­schen, unver­än­der­ten Trau­ben­saft. Bereits 1871 kam er auf die Idee, die Mikro­or­ga­nis­men im fri­schen Trau­ben­saft abzu­tö­ten. Dazu wur­de der Saft sofort ab Pres­se in Fla­schen abge­füllt, ver­korkt und ver­bun­den. Danach wur­den die Fla­schen in einen gros­sen, mit Was­ser gefüll­ten Kes­sel gestellt, wel­cher auf 70 ° C erwärmt wur­de. Damit wur­de der Trau­ben­saft halt­bar gemacht. – Erst nach Über­sied­lung von Gei­sen­heim nach Wädens­wil Ende 1890 wand­te er die­se Metho­de auch bei Kern­obst­säf­ten an. Mit Freu­de stell­te er fest, dass die sorg­fäl­tig ste­ri­li­sier­ten Obst­säf­te aus­ge­zeich­ne­te Geträn­ke waren. – Er war auch infor­miert über die Ver­su­che der Wär­me­pas­teu­ri­sa­ti­on der bei­den fran­zö­si­schen For­scher Nico­las Appert (1749–1841) und Lou­is Pas­teur (1822–1895). Sein Freund, der Arzt und Psych­ia­ter Prof. Dr. August Forel (1848–1931), ermu­tig­te ihn, Ver­su­che anzu­stel­len, um Metho­den zur gewerb­li­chen Gewin­nung pas­teu­ri­sier­ter Obst- und Trau­ben­säf­te zu entwickeln.

Die Abs­ti­nen­ten­be­we­gung star­te­te 1829 in Irland und brei­te­te sich anschlies­send in ganz Euro­pa aus. In Genf grün­de­te der frei­kirch­li­che Pfar­rer Lou­is-Luci­en Rochat (1849–1917) den „Schwei­ze­ri­schen Tem­pe­renz­ver­ein“ aus dem dann 1877 das „Blaue Kreuz“ her­vor­ging. Mül­ler-Thur­gau lern­te Susan­na Orel­li-Rin­der­knecht (1845–1939) ken­nen, wel­che 1894 in Zürich das ers­te alko­hol­freie Restau­rant (Kaf­fee­stu­be) eröff­ne­te. 1895 fand der inter­na­tio­na­le Abs­ti­nen­ten­kon­gress in Zürich statt und Mül­ler-Thur­gau ver­öf­fent­li­che eine Arbeit in der „Schweiz. Zeit­schrift für Obst- und Wein­bau“ mit dem Titel „Kon­ser­vier­ter Trau­ben­saft als Ersatz für Wei­ne“. Dort schrieb er u.a.: „Es ist gera­de­zu über­ra­schend, dass man sich bis­her so wenig Mühe gab, den Trau­ben­saft, die­ses köst­li­che Gut, in unver­go­re­nen Zustand zu erhal­ten, und so ein Getränk zu gewin­nen, das den ver­go­re­nen Wein in gesund­heit­li­cher Bezie­hung unbe­dingt über­trifft und dabei noch einen nicht unbe­deu­ten­den Nähr­wert besitzt, der ja bekannt­lich dem Wei­ne nicht zukommt“. Und wei­ter: „So wür­de selbst bei einer Über­hand­nah­me der Abs­ti­nenz­be­stre­bun­gen den Wein­bau­ern der Absatz ihres Pro­duk­tes gewahrt blei­ben“.

In einer zwei­ten Arbeit, wel­che im Jah­res­be­richt 1894/95 erschien, berich­te­te er über die Min­dest-Tem­pe­ra­tur, um Mikro­or­ga­nis­men (u.a. Wein­he­fe, hefe­ähn­li­che Pil­ze und Trau­ben­schim­mel) abzu­tö­ten. Ein wei­te­res Anlie­gen war ihm die Gewin­nung roter Trau­ben­säf­te. Er ent­wi­ckel­te ein Ver­fah­ren, wel­ches ermög­lich­te, den Farb­stoff auch bei unver­go­re­nen Säf­ten zu gewin­nen (bei ver­go­re­nen Säf­ten wird der Farb­stoff erst durch den Alko­hol her­aus­ge­löst). Im Jah­re 1896 ver­öf­fent­lich­te er eine grund­le­gen­de Publi­ka­ti­on mit dem Titel „Die Her­stel­lung unver­go­re­ner und alko­hol­frei­er Obst- und Trau­ben­wei­ne“ im Ver­lag J. Huber, Frau­en­feld. Schon nach zwei Jah­ren erschien die 5. Auf­la­ge. –   Den Zusatz von gärungs­hem­men­den Sub­stan­zen lehn­te Mül­ler-Thur­gau ein­deu­tig ab. Da auch das Abfil­tern von Mikro­or­ga­nis­men nicht gelang, blieb nur die von ihm ent­wi­ckel­te Metho­de der scho­nen­den Pas­teu­ri­sa­ti­on mit Wär­me, wobei die not­wen­di­ge Tem­pe­ra­tur min­des­tens 60° C (wäh­rend 15 bis 30 Minu­ten) betrug.

Das Unter­neh­men „Alko­hol­freie Weine“

Nach der Publi­ka­ti­on von 1896 mel­de­ten sich beim Ver­fas­ser Inter­es­sen­ten aus Bern, wel­che das Ver­fah­ren in die Pra­xis umset­zen woll­ten. Zu den Initi­an­ten gehör­ten:  Jen­ni (Natio­nal­rat BE), Jäg­gi, Bals­thal (Gross­rats­prä­si­dent SO), Tan­ner (Stadt­rat Bern), Sie­mon-Lie­bi (Kauf­mann aus Bern) und Roo­schütz (Mine­ral­was­ser­fa­bri­kant Bern). Sie grün­de­ten am 13. Juni 1896 die Fir­ma „Ers­te Schwei­ze­ri­sche AG zur Her­stel­lung unver­go­re­ner und alko­hol­frei­er Trau­ben- und Obst­säf­te“ mit Sitz in Bern. Mül­ler-Thur­gau war Ver­wal­tungs­rat (VR) und wis­sen­schaft­li­cher Bera­ter. Das Gesell­schafts­ka­pi­tal betrug 250‘000 Fran­ken. Die Ber­ner Fabrik­an­la­ge wur­de im Hebst 1896 gebaut und nahm sofort den Betrieb auf. Sie wur­de für eine Pro­duk­ti­on von 500‘000 bis 600‘000 Liter geplant und kos­te­te 292‘000 Fran­ken. Im ers­ten Herbst wur­den 130‘000 Kilo Obst und 350‘000 Kilo Trau­ben ver­ar­bei­tet. Trotz den Anwei­sun­gen von Mül­ler-Thur­gau gin­gen im ers­ten Jahr 40‘000 Liter Geträn­ke in Gärung über, weil Hefe­zel­len und ande­re Mikro­or­ga­nis­men sich durch feins­te Poren ein­schli­chen. Bis im Früh­ling 1897 wur­den 170‘000 Fla­schen ver­kauft. Im März beschloss der VR den Bau einer Filia­le in Mei­len, wel­che im Herbst 1897 bezo­gen wer­den konn­te und 332‘000 Fran­ken kos­te­te. Der aus Rüsch­li­kon stam­men­de Bau­ern­sohn Her­mann Schwar­zen­bach (1864–1926) lei­te­te die Filia­le bis 1922. Er war ein Gei­sen­hei­mer Schü­ler. Wegen des Baus der Filia­le in Mei­len und Fehl­ent­schei­den des VR geriet die AG in eine finan­zi­el­le Schief­la­ge. Des­halb wur­de das Akti­en­ka­pi­tal zuerst auf 800‘000 Fran­ken erhöht und 1898 dann sogar auf 1,1 Mil­lio­nen auf­ge­stockt. Im Jah­re 1900 wur­de das Kapi­tal der „Gesell­schaft für alko­hol­freie Wei­ne, Bern“ auf 400’000 Fran­ken und 1904 auf 250‘000 Fran­ken redu­ziert. Die Ber­ner Fabrik wur­de 1903 geschlos­sen. Die Umsät­ze im Betrieb Mei­len wuch­sen ab 1903/1904 ste­tig. Des­halb konn­te sie­ben Jah­re nach Grün­dung erst­mals eine Divi­den­de von 5 % bezahlt wer­den. Bis 1918 konn­te regel­mäs­sig eine Divi­den­de aus­be­zahlt wer­den. Der VR beschloss 1917, die „Kon­ser­ven­fa­brik Thal­wil“ zu über­neh­men. In Mei­len wur­den nun je nach Ern­te und Bedarf ver­schie­de­ne Fruch­säf­te ste­ri­li­siert. Obwohl die Fir­ma 1919 eine Divi­den­de aus­zah­len woll­te, schei­ter­te dies an Geld­man­gel. Zudem muss­ten die Ver­wal­tungs­rä­te im Herbst per­sön­lich Geld ein­schies­sen, um die Herbst­käu­fe zu bezah­len. Da sich die Süss­most­be­rei­tung zuneh­men­der Beliebt­heit erfreu­te, mach­te sich auch die Kon­kur­renz zuneh­mend bemerk­bar, und zwar einer­seits durch ande­re Mos­te­rei­en, und ande­rer­seits durch abs­ti­nen­te Pri­vat­leu­te, wel­che im Herbst „Süss­most­ta­ge“ durch­führ­ten und dabei Fla­schen zum hal­ben Preis anbo­ten. – Auch ein Zusam­men­schluss von drei Betrie­ben (in Opp­li­gen, Romans­horn und Ober­mei­len) mit der AG „Alko­hol­freie Wei­ne und Kon­ser­ven Mei­len“ im Jah­re 1921/22 brach­te kei­ne nach­hal­ti­ge Lösung der finan­zi­el­len Pro­ble­me. Nach­dem sich der Betrieb in Mei­len mit gros­sen Men­gen an Zucker zu hohen Prei­sen ein­ge­deckt hat­te, kam es in den Jah­ren 1926 und 1927 zu einem mas­si­ven Preis­zer­fall und dadurch zu schwe­ren Ver­lus­ten. Nur dank der Über­nah­me des insol­ven­ten Betriebs durch die Migros AG im Juni 1928 konn­te ein Kon­kurs ver­hin­dert wer­den. In der Fol­ge wur­den die Prei­se für Süss­most und Trau­ben­saft stark gesenkt, wor­auf die Lager­kel­ler im August leer waren. Im Dezem­ber wech­sel­te dann die Fir­ma, mit unver­än­der­tem Namen und Zweck, den Besit­zer. Nach Abschrei­bun­gen von mehr als einer Mil­li­on Fran­ken betrug das Akti­en­ka­pi­tal noch 540‘000 Fran­ken. Im Jah­re 1929 wur­de das Fabri­ka­ti­ons­sor­ti­ment erwei­tert und der Fir­men­na­me wur­de auf „Pro­duk­ti­on Mei­len AG gewech­selt. Wegen ver­al­te­ter Ein­rich­tun­gen stell­te die Fir­ma 1933 die Saft­pro­duk­ti­on ganz ein, und die Migros AG bezog Süss­most und Trau­ben­saft von anders­wo her. Gott­lieb Dutt­wei­ler (1888–1962) wuss­te um das Risi­ko bei der Fir­men­über­nah­me. Aber er bewahr­te mit sei­nem Kauf einer­seits eini­ge Dut­zend Per­so­nen vor dem Ver­lust des Arbeits­plat­zes und ande­rer­seits den Süss­most und den Trau­ben­saft vor einem schwe­ren Prestigeverlust.

Per­sön­lich­keit

Die Art von Prof. Dr. Her­mann Mül­ler-Thur­gau wur­de als ein­fach und beschei­den beschrie­ben. Sein Auf­tre­ten war bestimmt, er ver­füg­te über ein leb­haf­tes Tem­pe­ra­ment und hat­te ein aus­ge­zeich­ne­tes Gedächt­nis. Trotz erns­tem und stren­gem Cha­rak­ter zeich­ne­te er sich aber auch durch Witz und Humor aus. In gesel­li­ger Run­de strahl­te er Fröh­lich­keit aus. Er erkann­te nicht nur wis­sen­schaft­li­che Grund­pro­ble­me rasch, er war er auch ein bril­lan­ter Zeich­ner. Sein Lebens­werk besteht aus über 500 teil­wei­se grund­le­gen­den wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tio­nen. Vor­aus­set­zun­gen für die­ses Werk waren eine gros­se Schaf­fens­kraft und eine straf­fe Selbst­dis­zi­plin. Ein von ihm häu­fig zitier­ter Grund­satz war: „Nüd naa laa gwünnt“.

  • Fami­lie und Freun­de: Ein beson­de­res Ver­hält­nis hat­te er zu sei­ner ältes­ten Toch­ter Eli­sa, wel­che sei­nem eige­nen Wesen nahe­stand, und zu deren Sohn bzw. sei­nem Enkel. Die­sen nahm er auf Spa­zier­gän­ge mit und zeig­te ihm, wie man ein Her­ba­ri­um anlegt. Sein engs­ter Freund in Wädens­wil war der Dorf­arzt und Orga­nist Dr. Felix. Mit ihm setz­te er sich für Refor­men in der Gemein­de ein. Sei­ne Begeis­te­rung für die Natur äus­ser­te sich im Ein­satz für den Alpi­nis­mus (im Rah­men des SAC) sowie beson­ders für die Alpen­flo­ra. Wei­te­re Freun­de waren Dr. Wyss­ling, Pro­fes­sor für Elek­tro­tech­nik an der ETH, und Erbau­er eines der ers­ten Elek­tri­zi­täts­wer­ke („An der Sihl“) der Schweiz. Auch Thur­gau­er gehör­ten zu sei­nen Freun­den, so Oberst Fehr von der Kar­tau­se Ittin­gen und Bun­des­rat Dr. med. Adolf Deu­cher (1831–1912) aus Steckborn.

  • Das Ver­hal­ten sei­nen Mit­ar­bei­tern gegen­über war von Stren­ge geprägt. Zuwei­len über­schätz­te er deren Leis­tungs­mög­lich­kei­ten. Weil er pein­lich genau war, galt er beim Labor­per­so­nal als Pedant. Die­ser Wesens­zug rühr­te von sei­nen Erkennt­nis­sen über die Mikro­or­ga­nis­men her.

  • In der Öffent­lich­keit enga­gier­te er sich als Mit­glied der Schul­be­hör­de in Wädens­wil. Er setz­te sich für eine Moder­ni­sie­rung des Lehr­plans und der Unter­richts­me­tho­den ein. – Beson­de­rer Erwäh­nung bedarf noch sei­ne Hal­tung gegen­über der Abs­ti­nenz­be­we­gung. Obwohl er oft über die Schä­den des Alko­hol­miss­brauchs geschrie­ben hat­te und zudem als der For­scher und För­de­rer für alko­hol­frei­en Wein und Most galt, wider­stand er dem Drän­gen von Prof. Forel und von Susan­na Orel­li, der Abs­ti­nenz­be­we­gung bei­zu­tre­ten. Er war ein unab­hän­gi­ger Geist und woll­te dies auch bleiben.

Andenken an Prof. Dr. Her­mann Mül­ler-Thur­gau in Tägerwilen

  • Mül­ler-Thur­gau Haus 1805 mit Gedenk­ta­fel zum 100. Geburtsag 1950

  • Mül­ler-Thur­gau-Stras­se nach 1960

  • Plas­tik von Her­mann Mül­ler-Thur­gau, 1985, von Ernst Fried­li, Geschenk TKB

  • Ver­ein „Rebleu­te Mül­ler-Thur­gau Täger­wi­len“ 1995 mit Wein­berg bzw. Reb­feld  im Nüsatz und mit Wein „Täger­wi­ler Müller-Thurgau”

Wich­tigs­te Quelle:

Schwei­zer Pio­nie­re der Wirt­schaft und Tech­nik, Band 29, 1974, Zürich  „Her­mann Mül­ler-Thur­gau“: Sei­ten 9 bis 64, von Prof. Dr. Robert Fritz­sche, Direk­tor der Eidg. For­schungs­an­stalt Wädenswil

Wei­te­re Quellen:

  • Paul Bär „Täger­wi­len – Ein Blick in die Ver­gan­gen­heit“ 1988
    „Das Mül­ler-Thur­gau-Haus“, Sei­ten 24 bis 29

  • His­to­ri­sches Lexi­kon der Schweiz

  • Wiki­pe­dia

Mein Dank gilt Mar­tin Bächer für die kri­ti­sche Durch­sicht mei­ner Arbeit und
Bru­no Sut­ter für das Auf­schal­ten mei­nes Bei­trags auf unse­rer Homepage.

  1. Dezem­ber 2023 Rolf Seger

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert